Warum ich Hilma af Klint nicht mag

Veröffentlicht am 6. Juli 2024 um 19:00

Heute möchte ich loslegen mit Teil 1 und beginne mit Hilma af Klint. Sie ist gerade ganz GROSS, hatte kürzlich erst eine Ausstellung in Dänemark und es war ein internationaler Riesenerfolg. Ich kann den Hype absolut verstehen – ihre Bilder sind GROSS (zumindest mal vom Format her), bunt, fröhlich und gleichzeitig auch voller spiritueller Symbole und Formen, die an Zellstrukturen, Bakterien und andere Grundformen des Lebens erinnern, dazu kommt der „Pionier-Faktor“, sie war tatsächlich die erste Malerin, die rein abstrakte Bilder schuf und ihr Stil ist unverkennbar und einzigartig. Sie folgte ihrem Inneren und suchte nach einer spirituellen Tiefe, einer Verbindung zu einer geistigen Quelle, aus der heraus sie ihre Werke schöpfte. Nach eigenen Aussagen flossen die Formen nur so aus ihr heraus, ohne Mühe oder Anstrengung, ohne „nachdenken“. Früher hätte mich diese Aussage bereits so sehr in Ehrfurcht versetzt, dass ich mich schon alleine deswegen verpflichtet gefühlt hätte, sie toll zu finden, ob mich ihr Werk nun anspricht oder nicht. Heute bin ich da etwas pragmatischer und lasse mich von solchen Dingen nicht mehr beeindrucken. Für mich ist es weder ein Beweis noch eine Vorraussetzung guter Kunst. Und überhaupt - was soll das schon sein, "gute Kunst"? Das ist sowieso für jeden etwas anderes und darüber lohnt es sich vielleicht mal einen eigenen Artikel zu schreiben - aber zurück zu Hilma af Klint.

Hilma af Klint wurde am 26. Oktober 1862 als viertes Kind von Mathilda Sonntag und Victor af Klint auf Schloss Karlberg geboren in Solna (Schweden). Der Vater war Offizier bei der schwedischen Marine, die Familie war wohlhabend. Im Jahr 1872 zog die Familie von Karlberg an die Nortullsgatan in Stockholm; an der Riddargatan besuchte sie eine Mädchenschule. Sie gehörte zu den ersten Malerinnen, die an der Königlichen Akademie der freien Künste in Stockholm von 1882 bis 1887 Malerei studierten, nachdem diese Institution von 1864 an auch Frauen in der Kunst den Zugang gewährt hatte.

Ihre Lehrer dort waren unter anderem Georg von Rosen und August Malmström. Nach dem Abschluss der Kunstakademie (1887) malte Hilma af Klint im eigenen Atelier. Zunächst schuf sie naturalistische Landschaften und Porträts gemäß ihrer akademischen Ausbildung und oft nach Auftrag. Der frühe Tod ihrer Schwester Hermine steigerte ihr Interesse an Religion und Spiritismus. Bereits im Alter von siebzehn Jahren beteiligte sich Hilma an Séancen. 1888 trat sie der Theosophischen Gesellschaft bei und folgte 1895 nach der Spaltung derselben der Theosophischen Gesellschaft Adyar (Adyar-TG).

Auf der Suche nach einer geistigen Dimension, auch in der Kunst, nahm sie ab 1886 regelmäßig mit vier weiteren Frauen an Zusammenkünften der Gruppe „De Fem“ („Die Fünf“) teil; in dieser Gemeinschaft fungierte sie selbst als Medium.

Die Gruppe dokumentierte ihre Erfahrungen in Notizbüchern und praktizierte lange vor den Surrealisten das automatische Zeichnen und Schreiben. In einer dieser Seancen(1904) hatte af Klint eine außergewöhnliche Erfahrung. Eine Stimme forderte sie auf, Gemälde “auf einer astralen Ebene” zu schaffen, um eine “neue Lebensphilosophie” zu verkünden. Sie begann ihre Erkenntnisse aus den Seancen in Zeichnungen und später in Großformatige Malerei umzustetzten, wobei sie nach eigener Beschreibung das Gefühl hatte, von einer spirituellen Kraft gelenkt zu werden. Sie schuf ein beindruckendes, großformatiges, von spiritueller und biologischer Symbolik geprägtes Oevre in wunderschönen hellen und bunten Farben, das erst in den 1980er Jahren entdeckt und erstmals ausgestellt wurde. Hilma af Klint blieb unverheiratet und kinderlos.

Zunächst möchte ich aber sagen: natürlich finde ich ihre Kunst ästhetisch. Ihre Bilder verbreiten eine wohltuende Atmosphäre von Leichtigkeit, Verspieltheit und Freundlichkeit. Sie erzählen von kosmischen Grundstrukturen, organischen Lebensformen, Kleinstwesen und Zellen. Sie spielen mit spirituellen Symbolen und ätherischen Kräften und lesen sich wie Landkarten der geistigen und physischen Sphären. Dennoch fehlt mir etwas. Und das ist nur meine ganz persönliche Ansicht und es auch nur meine derzeitige Ansicht – wer weiß, wie ich in 10 Jahren darüber denke, oder in 5 – aber so, wie ich die Bilder heute betrachte, fehlt mir der Schatten, der Mensch, das menschliche. Es sind perfekte, reine Welten. Doch das, was mein Leben ausmacht – Trauma, Verletzung, der tägliche Kampf mit Selbtzweifeln, Sorgen, schlechten Gewohnheiten, die brutalen Kräfte der Natur, Verfall, Krankheit und Tod, das „Unperfekte“, das „Alltägliche“, die „Dualität“… all das kann ich in ihren Bildern nicht finden. Es sind abstrakte, perfekte Welten. Sie sind geordnet, rein. Sie sind über jeglichen Zorn und Schmutz erhaben. Wo ist da Platz für innere Zerrissenheit, Wut und Chaos? 

Es sind spirituelle Bilder, inspiriert von höheren Wesen. Doch möchte ich geistige Führer, wo ich das Gefühl habe, mich verstecken zu müssen, wenn ich mich total unrein, fehlerhaft, zornig, frustriert, alleine fühle? Vielleicht hatte Hilma af Klint eine Stufe des Menschseins erreicht, wo sie tatsächlich über diese "niederen" Zustände hinaus gewachsen war, und das wünsche ich mir auch eines Tages. Aber selbst dann, will ich in einer "Blümchen-Sex"-Blase leben? Mich aus allem raushalten - Ehe, Leidenschaft, Sex, Kinderkriegen, um "rein" zu bleiben? Oder will ich mir die Welt zu eigen machen, meine Dämonen aus dem Keller holen ins Tageslicht, mich mit ihnen konfrontieren und sie transformieren - als wirksame Kräfte zur Verfügung haben, nicht aus dem Leben ausklammern? Ich möchte Hilma af Klint einer Künstlerin gegenüberstellen, die knapp 70 Jahre nach Klint geboren wurde und die sich in ihrem Werk mit all dem "Dreck", der ihr und allen Frauen, Kindern und Menschen vor ihr angetan wurde, die ihre Dämonen aus dem Keller geholt, auf sie geschossen und sie transformiert hat, bis am Ende nichts als lebensfrohe, starke, sexuelle und verspielte Frauen durch sie Gestalt bekamen: die Nanas. Die Rede ist von:

Niki de Saint Phalle

Niki de Saint Phalle, geboren 1930 in Frankreich in der Nähe von Paris auf einem Schloß der Adelsfamilie geboren, verließ mit 18 Jahren den sicheren Hafen ihrer reichen Familie, um sich zusammen mit ihrem Freund und frisch gebackenen Ehemann ein eigenes Leben, frei von den Zwängen und Erwartungen ihrer Verwandten aufzubauen. Nach einem psychischen Zusammenbruch, den sie in ihren frühen 20er Jahren erlitt, entdeckte sie in der Psychatrie, dass sie ihre Dämonen nur dann bannen konnte, wenn sie mit ihren Händen etwas schuf - Kunst. Sie malte Bilder und stellte Collagen zusammen, obwohl sie völlig frustriert darüber war über keinerlei zeichnerisches Talent zu verfügen und nur grobe, rudimentäre Formen zusatande zu bringen. Dennoch lehnte sie Ende 20 ein verlockendes Angebot als Hauptdarstellerin in einer Artus-Verfilmung ab, um sich ganz der Kunst zu widmen - mit Haut und Haar, ohne Aussicht auf Erfolg. Sie verzichtete auf ein Leben in Glamour und im Rampenlicht, weil sie spürte, dass etwas tief in ihr brodelte, dem sie sich nur mit Hilfe der Kunst stellen konnte. 

 

Kurz darauf erfuhr sie auch den Grund: Ihr Vater schrieb ihr einen Brief, indem er sich dafür entschuldigte, dass er im Sommer '42, als Niki gerademal 11 Jahre alt war, "versucht habe, sie zu ihrer Geliebten zu machen". Sie zeigt den Brief ihrem Psychiater, der ihn vor ihren Augen verbrennt, mit den Worten: "Vergessen Sie ganz schnell, was ihr seniler Vater

da geschrieben hat, nichts davon ist wahr". Doch ihr Ehemann Harry steht zu ihr und so findet sie den Mut, ihre Mutter damit zu konfrontieren. Diese habe nichts davon gewusst, sagt sie, "aber eins weiß ich: im Herbst und Winter '42, da fingen die Probleme mit dir an. Davor warst du ein normales Mädchen, aber dann konntest du nicht mehr mit uns am Tisch sitzen und ich musste dich dauernd in die Küche zum Gesinde schicken. Und in der Schule, da wurde es ganz schlimm". Niki besuchte damals eine strenge Klosterschule und fing an, gegen alles und jeden zu rebellieren. Kein Wunder: ihr engster Vertrauter, ihr Papa, hatte sie betrogen. Sie glaubte und vertraute keinem mehr. Doch das Erlebnis selbst - das verdrängte ihre Kinderseele. Nur die Reaktion darauf blieb: die ständige Wut, das Bedürfnis auszubrechen und zu rebellieren, ihr ungezähmter Charakter. All das eine Konsequenz des versuchten Mißbrauchs des Vaters - und der strengen, von emotionaler Gewalt geprägten Erziehung ihrer Mutter (einmal soll ihre Mutter den Bruder am Tisch gezwungen haben, etwas zu essen, vor dem er sich ekelte. Als er das Gegessene daraufhin erbrach, zwang sie ihn zusätzlich, das Erbrochene aufzu essen). 

Niki wollte ausbrechen. Sie wollte sich aus dem zwanghaften Korsett ihrer Herkunft, aber auch ihrer Stellung als Frau in der Gesellschaft  befreien. Um dies zu tun, nahm sie ein Leben in Schmutz und "Armut" auf sich, ohne Sicherheit. Sie brannte mit 18 mit ihrem Ehemnann durch, sie bauten sich ein Leben auf, bekamen zwei Kinder, nur um dann festzustellen, dass sie - Niki, die Rebellin - in die gleichen Fußstapfen ihrer Mutter, und aller Frauen davor geraten war: sie war zu Hause und kümmerte sich um Haus und Kinder, während ihr Mann eine Liebschaft nach der anderen hatte. Das führte zu dem Zusammenbruch, und das führte auch zu der radikalen Entscheidung für die Kunst, um die Drachen und Dämonen in sich zu überwinden. Sie verließ ihren Mann und die Kinder und lebte zusammen mit Jean Tinglue und anderen Künstlern in einer Künstler-Kolognie  mitten in Paris. Sie hatten nichts - und dennoch lehnte sie das Angebot einer gut bezahlten Rolle als Schauspielerin ab - weil sie sich kompromißlos dem hingab, was sie in sich fühlte. Als sie von einem Liebhaber verlassen wird, baut sie eine Figur aus einer Dartscheibe, einem seiner alten Hemden und eine Krawatte und befriedete ihre Wut, indem sie Pfeile auf die Zielscheibe schoß und dabei an das Gesicht ihres Ex-Lovers dachte. 

Die Figur wurde der Renner auf einer Ausstellung der "Nouveaux Realists", jeder verstand intuitiv, wofür das Kunstwerk stand und durfte seinem Ärger Luft machen. Das wurde der Auftakt zu Nikis erfolgreichen "Schießbildern", mit denen sie ihren ersten internationalen Durchbruch hatte. Sie schuf große Reliefs und packte alles rein: ihr Vater, der sie sexuell missbraucht hatte, Männer, die sie unterdrückt hatten, Kampfmaschinen, Atombomben, Wolkenkratzer - und dann schoß sie darauf. Sie Schoß auf die Figuren, die sie in schönem, weißen Gips geschaffen hatte, und darunter platzten bunte Farbbeutel hervor. Sie schoss mit einem Gewehr und ließ das Publikum ebenfalls auf ihre Welt-Gebilde schießen - nicht um zu töten, nicht um zu zerstören - sondern um die Reliefs, die Mahnmale der Zerstörung und Unterdrückung, lebendig werden zu lassen. Denn unter dem Gips hatte sie die buntesten Farben versteckt, die bei jedem Schuss in dicken Tropfen und Schlieren hervorbrachen. So entstand aus dem Kunstwerk life ein neues Kunstwerk - und jeder durfte mitmachen. Jeder durfte schießen. Es war ein riesen Spaß und ein riesen Erfolg. Ihr Durchbruch als Künstlerin. 

Doch dann beschloss sie, mit dem Schießen aufzuhören. Warum? Weil sie spürte, dass sie davon abhängig wurde, von dem Rausch, den sie dabei erlebte, dem Adrenalin, das durch ihre Adern schoss mit jedem Mal, wenn sie den Abzug drückte... doch Niki wollte nicht abhängig sein, von NICHTS und NIEMANDEM! Also beendete sie das Schießen. Und dann kam die Trauer. Sie schuf monströse Frauenfiguren, Frauen, die Armeen von Kindern gebaren, Frauen, begraben unter Schrott und Flugzeugen, missbraucht, missachtet, ausgebeutet, gedemütigt. Sie schuf Abbilder von Gaja, Mutter Erde, die unter einer Flut von Müll, Krieg und Kindern begraben, weiterhin gebar, weiterhin neue Frucht hervorbrachte, unermütlich, ohne Klage, und ohne Freude, und dennoch sind es starke Frauen.

Eines Tages war die Trauer und die Wut vorbei. Und dann waren sie auf einmal da: die Nanas. Üppige Wesen, voller Lust und Weiblichkeit, voller Freude und Leichtigkeit, mit dicken Schenkeln und fülligen Körpern. Sie widersprachen so ganz dem gängigen Schönheits-Ideal, und waren doch purer Ausdruck von Kraft, Anmut und Sinnlichkeit. Sie tanzten, turnten und liebten. Sie eroberten die Welt, bunt, fröhlich, leicht, sinnlich und schön. Niki wurde eine international anerkannte und gefeierte Künstlerin, ohne jemals eine Kunstschule besucht zu haben, ohne jemals Zeichenunterricht genommen zu haben, ohne überhaupt zeichnen zu können. Sie schuf mit dem, was sie hatte: ihrer Leidenschaft, ihrer Wut, ihrem Schmerz und vor allem ihrem Willen, sich daraus zu befreien. 

In ihren letzten 20 Lebensjahen erfüllte sie sich ihen größten Traum: Sie schuf einen Tarot-Garten, mitten in der Toskana, nach ihren eigenen Vorstellung, mit ihrem eigenen Geld und einer Handvoll begabter italienischer Maurer. Sie schuf einen begehbaren Tempel, der alle 22 Arkanas representiert, com Hierophanten bis zu den Liebenden, von der Hohepriesterin bis zum Tod, alle Stationen des Lebens und der seelischen Entwicklung sind darin representiert, in riesengroßen, begehbaren Skulpturen. Niki starb am 21. März 2002 im Alter von 72 Jahren an den Folgen ihres unermüdlichen Schaffens und dem Staub der Materialien, die sie verwendete. Doch sie starb als zufriedene, starke, unabhängige Frau. Sie hatte ihr Werk vollbracht und es der Menschheit hinterlassen. Sie starb nicht als alte Frau - sondern als gereifte Frau. 

Fazit

Es ist ungerecht, diese beiden Künstlerinnen zu vergleichen, denn ohne af Klint hätte es keine Niki gegeben. Frauen wie Hilma ebneten den Weg für eine neue Generation. Sie machten den ersten Anfang, nutzen die ersten Chancen, gruben die ersten Spuren in die so lange undurchdringliche Mauer des Patriachats und der Unterdrückung. Dennoch ist es so, dass ich mich Niki de Saint Phalle viel näher fühle. Beide Frauen wuchsen in einer priviligierten Familie auf - doch während Hilma Zeit ihres Lebens von ihrer Herkunft und den damit verbundenen Privilegien profitierte, riß Niki alle Brücken hinter sich ab und zog in die Welt, allein mit ihrem Schmerz, ihren Träumen und Hoffnungen. Sie scheiterte, stand wieder auf, begann von vorne, sie wuchs an den Hindernissen, die sich ihr in den Weg stellten, und sprengte buchstäblich Mauern und Strukturen der "alten Welt". Sie befreite sich aus kompromißlos aus allen einengenden gesellschfatlichen Rollen und machte sich dabei die Hände dreckig. Sie litt an mehreren Krankheiten und ließ sich von nichts unterkriegen. Im Vergleich dazu schwebte Hilma auf einer ätherischen Wolke durchs Leben. Hilma erhielt ihren Auftrag und ihre Inspiration von astralen Meistern aus einer anderen Dimension - Niki's Auftrag kam aus ihr selbst heraus und sie schuf Kunst, inspiriert von der Welt, in der sie aufwuchs und lebte - und veränderte dadurch die Welt. Darum würde ich mich - wäre ich vor die Wahl gestellt - für Team Niki entscheiden. 

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